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Die Gedankenverschmelzung

Bericht vom 23. Tage des 9. Mondes im Jahr 20

Der Tag war gekommen. Levana stand, begleitet von ihren Schwestern Carlie Flinkfuss, Nilya Minuial, Chanany Prior, Aridara, Marcela, Kylia und Morticca am Strand von Vesper. Alle waren da – alle, bis auf den Grauelfenmagier, der das Ritual vorgeschlagen hatte.

Nervös scharrte Levana mit ihren Füßen im Sand herum und hielt Ausschau nach der Gestalt Ithuliens, den offenkundig nichts aus der Ruhe bringen konnte. Endlich tauchte er auf – mit einer Gelassenheit, die ihresgleichen suchte. „Elen feana or govas nîs edain o edhil“, begrüßte er die Schwestern. Dann stellte er eine Frage, die Levana verunsicherte. „Worin war die Wahl begründet, diesen Ort als unseren Treffpunkt auszuwählen?“

Levanas ungesund fahles Gesicht lief ein wenig rot an, als sie versuchte, eine passende Antwort auf diese Frage zu finden. „Na ja … Ihr meintet … ein Ort, der Bedeutung haben könnte – aus der Vergangenheit“, stotterte sie und blickte sich hilflos um. Marcela kam ihr zur Hilfe. „Levana liebt den Strand“, sagte sie in ruhigem Ton. Levana nickte schnell.

„Ihr könnt euch vage erinnern, als läge ein Schleier vor dieser Erinnerung?“

Die Zigeunerin nickte erneut.

„Dennoch könnt Ihr es fühlen, dass dieser Ort in der Vergangenheit eine Relevanz gehabt haben muss?“
Levana legte die Stirn in Falten und versuchte, nachzudenken. Ein stechender Schmerz schoss ihr in en Kopf. „Ich weiß es nicht!“, rief sie aus.

Prüfend betrachte Ithulien ihre Mimik. „Ist es nichts was Ihr fühlt an diesem Ort?“

Verzweifelt erwiderte Levana sein Blick. „Doch! Ich versuche es …“

„Das Gefühl ist nicht zu identifizieren, doch es ist spürbar … irgendetwas da?“

„Die Erinnerung ist so nah, zum Greifen nah“, sagte Levana leise, Erschöpfung in der Stimme.

„Mae“, sagte der Elf. „Habt ihr alles, wonach ich gebeten habe?“

„Ja, Dank meiner Schwestern.“ Levana ließ den Blick über den Kreis ihrer Schwestern streifen und schenkte jeder einzelnen ein Lächeln.

„Erde, Feuer, Wasser und Luft?“

Die Schwestern nickten bestätigend.

„Wir werden diese Elemente nutzen, um deinen Geist zu isolieren und auf dein emotionales Selbst einen Blick zu werfen. Deine Erinnerungen und Gefühle werden mir preisgegeben … für einen kurzen Moment. Wir werden einen anderen Ort aufsuchen, um die Reise in deinen Geist anzutreten.“

Den ersten Satz hatte Levana nicht so recht verstanden, doch sie nickte ihm abermals einwilligend zu.

Als sie gerade abreisen wollten, tauchte plötzlich ein weiterer Mann am Strand auf – Erzmagus Heldor Gerosian.

„Es ist seltsam, dass so viele Leute hier am Strand sind“, bemerkte dieser freundlich lächelnd. „Und das bei diesem Wetter … Das hat mich etwas neugierig gemacht.“

In der Tat hatte es angefangen zu gewittern. Levana hielt ängstlich ihren Mantel vor die Fackel mit dem reinen Element des Feuers, besorgt, dass diese erlöschen könnte. Suchend blickte sie noch einmal zum Himmel, ob zwischen den Gewitterwolken der Mond noch zu sehen war. Sie erinnerte sich an Abees Worte: „Der Mond wird dich mit seinem Licht umarmen.“

„Nun, wir sind auf der Suche nach der Vergangenheit, Arcomagus“, erklärte Kylia.

Als sie bemerkte, dass Kylia fragend ihren Blick zu suchen schienen, nickte Levana dem Erzmagus zu. „Möchtet ihr mitkommen? Ich denke, ein Zauberer mehr kann ja nicht schaden.“

„Was genau sucht ihr denn?“, wollte dieser wissen.

„Die Vergangenheit im Geiste eines Edain“, antwortete die Elfe Nilya.

„Das bin dann wohl ich“, ergänzte Levana und runzelte leicht die Stirn.

Gemeinsam mit Ithulien und dem Erzmagus reisten die Schwestern durch ein Portal zu einem Garten in den Elfenlanden, den der Grauelf vorbereitet zu haben schien.

„Dieser Ort ist den Elementen unserer Welt, Ea gewidmet“, erklärte dieser. „Hier sind die Elemente. Naur – Feuer, Cae – Erde, Nen – Wasser und Gwiith – Luft vertreten.“ Er deutete zu seiner linken, einer Art lila Wirbel. „Und dieses Element Lûth – die Magie oder auch der Geist, soll uns am heutigen Abend diese Möglichkeit verschaffen. Levana Rotfuchs, nimm vor dieser Abbildung deinen Platz ein.“

Levana betrachtete staunend die Abbildungen der Elemente in dem wundersamen Garten und trat dann neben den lila Wirbel, ausharrend.

Ithulien fuhr fort: „Ich werde erklären, was hier nun geschehen wird. Wir werden die reinsten Elemente – welche Ihr mit euch gebracht habt – an entsprechende Plätze an diesem Ort platzieren. Ich werde versuchen, eine Verbindung zum Geiste der Schwester aufzubauen, indem ich die Linnyd î Lûth formuliere. Die Elemente an den Orten hier, sollen in Resonanz mit Levana Rotfuchs gehen, sodass ihr Geistelement offenbart wird.“

Levanas Blick hing an den Lippen des Elfs, während sie die Fackel nervös von einer Hand in die andere schob. Auf sein Geheiß platzierte sie sodann jedes der Elemente neben die entsprechende Abbildung. Für das Feuer steckte sie die Fackel in die Erde. Blendend hell und ungewöhnlich strahlend lodernde das reine Element des Feuervogels. Für die Erde hatte sie den Klumpen Lehm aus dem Erdelementar in einer tönernen Schale mitgebracht. Die glitzernden Tropfen des Wasserelementars befanden sich in einem Marmorschälchen und in einer Glasphiole tobte ein kleiner Luftwirbel. Nachdem sie jedes der Elemente behutsam abgestellt hatte, begab sie sich wieder an ihren Platz neben der Nachbildung des Geist-Elementes.

Nun begann Ithulien mit dem Ritual. Er schloss die Augen und sein Atem wurde gleichmäßiger, als er die Umgebung ausblendete. Langsam, aber kontinuierlich baute er seinen Fokus auf, indem er alles andere als Levana und ihren Geist gedanklich wegschob. Ein leises Surren war zu vernehmen, als sich eine erste, schwache Verbindung zum arkanen Gewebe aufbaute.

Völlig starr stand Levana da, die Finger leicht in die Steinplatte vor sich gekrallt und wartete. Ihr Herz klopfte schnell. Sie wusste, dass Ithulien jeden Moment in ihren Geist eindringen würde. Nervös flackerten ihre Augen hin und her. Sie musste es geschehen lassen.

Ithulien begann nun die Strukturen der umgebenden Elemente zu erspüren und zu nutzen, um eine Resonanz mit den elementaren Strukturen in Levanas Körper zu erzeugen.

Nach und nach bildete sich ein Schimmer um die mitgebrachten Elemente, während Ithulien langsam und bewusst versuchte, Stabilität in den Vorgang zu bringen. Wie in Trance bildete er in Sindarin die Worte: „Lûth cengal faer!“ (Ermögliche mir einen klaren Blick auf den Geist.)

Auch Levanas Atem wurde gleichmäßiger, ihre Gliedmaßen entspannten sich ein wenig.

Ithuliens Luth-Ivren, welchen er am Gürtel trug, begann zu leuchten. Gleichzeitig schwanden die Reagenzien Alraune, Spinnenseide und Schwarzperle in seinem Beutel.

Das Surren wurde lauter und die Elemente in ein noch stärkeres Glitzern gehüllt.

Levanas Hände lagen nun entspannt auf dem Steintisch. Eine seltsame Ruhe hatte von ihr Besitz ergriffen.

Ithuliens Augenlider schlossen sich wie von selbst, als die Verbindung zum arkanen Gewebe erstarkte.

Mit einem Mal wurde auch Levanas Körper von einem Glitzern erfasst. Unmerklich schwankte sie hin und her, ihren Körper ganz der Fremdsteuerung überlassend, während Ithuliens Geist versuchte über das arkane Gewebe einen Zugang zu Levanas Erinnerungen zu finden. Auch Ithuliens Körper begann zu glitzern.

Levana ließ nun alles geschehen und versuchte sich auf den Strand zu konzentrieren, wie der Elf es ihr zuvor geraten hatte. Vor ihrem inneren Auge visualisierte sie den Ort wie ein Beobachter von außen, völlig unbeteiligt. Sie konnte die Verbindung zu Ithulien nun deutlich spüren und ließ ihn Zugang zu der Erinnerung finden. Eine weitere Präsenz befand sich darin – doch war diese hinter einem Schleier verborgen.

Forschend versuchte Ithulien, die Erinnerungen am Strand wahrzunehmen und weitere Einblicke zu gewinnen. Saß Levana alleine am Strand oder war da noch jemand?

Nun konnte er wahrnehmen, wie Levana am Meer saß und lachte, unter sich eine Decke – neben ihr eine weitere Person, verschwommen. Ihr Kopf begann zu schmerzen – und mit ihm der von Ithulien. Beide verzogen das Gesicht.

Ithulien versuchte den Schleier genauer zu betrachten, den Schutz in Form eines Fluchs, der sich in den Erinnerungen verfestigt hatte und den magischen Ursprung festzustellen. Der Zauber schien sich wie eine Krankheit in Levanas Geist hineingefressen und ausgebreitet zu haben.

Erneut formten Ithuliens Lippen einige Worte. Im selben Moment begann der Zauberkristall an seinem Gürtel zu leuchten und Knoblauch sowie Alraune schwanden aus seinem Beutel. „Luithia-Rhach!“ (Elfische Verse für die Auflösung eines Fluchs.) Mit Fokus auf den Schleier versuchte er, den Fluch des Vergessens zu durchbrechen und diesen aufzulösen.

Levana spürte, wie sich der Schleier langsam zurückzog und dünner wurde – wie ein Krake, der seine Tentakel in die Höhle zurückzieht, gab er nach und nach Levanas Geist frei. Gleichzeitig fuhren stechende Schmerzen in ihren Kopf. Ohne, dass sie dessen Gewahr wurde, entfuhren ihr leise, klagende Laute.

Ithulien versuchte nun, sich durch die Barriere des einstigen Schleiers zu bewegen und einen Einblick in das Verborgene zu erhalten.

Erneut sah er die Szene am Strand, nun aus Levanas Perspektive. Vergnügt lachend sitzt sie auf der Decke, mit ihrer Hand eine andere Hand ergreifend, sehr dunkel und etwas kleiner als ihre eigene. Sie hebt den Blick. Ihre Pupillen weiten sich, als sie den jungen Halbdrow vor sich betrachtet, der den Blick ebenso verliebt erwidert. Er legte ihr die Kette um, die Ithulien bereits kennt – Kelindahrs Name darin eingraviert. Die Erinnerung verschwimmt, als die Fingerspitzen des Halbdrows sanft Levanas Nacken heruntergleiten.

Ithulien suchte nach weiteren Erinnerungen, die damit verbunden waren. Eine andere Szene erschien vor seinem Auge. Levana auf ihrem Lama, durchs Herzogtum reitend. Ihre Kleidung ist schmutzig und sie wirkt erschöpft, als ob sie von einer längeren Reise zurückehrt. Überall begegnen ihr kranke Menschen, Leichen werden weggekahrt, von der Seuche gezeichnet. Mit zunehmender Verzweiflung scheint Levana etwas zu suchen, bevor auch diese Erinnerung verschwimmt.

Ithulien wand sich der nächsten Erinnerung zu. Levana scheint etwas älter zu sein, müde ihr Blick. Sie reist durch eine Gegend fernab des Herzogstums – ein Wald, es ist nicht erkennbar, wo genau, ihr Wandergefährte ein menschlicher Magier. Levana gibt ihm ihr ganzes Gold. Dann wird plötzlich alles schwarz.

Erneut versuchte der Grauelf, mehr zu erfahren und den Ursprung dieses Treffens zu finden. Schließlich offenbarte sich ihm eine Begegnung. Offenbar sind der Magier und Levana bereits ein Stück gemeinsam gereist. Währenddessen erzählt Levana verzweifelt von ihrer Suche nach dem Halbdrow, die bereits Jahre andauert – ahnend, dass sie vergebens ist. Des Abends sitzt Levana mit dem Magier am Feuer. Er schlägt ihr vor, die Erinnerung an Drows aus ihrem Geist zu tilgen, sodass sie nicht mehr an ihren Liebsten erinnert wird. Levana lehnt zunächst ab. Später weckt sie ihn und sagt zu.

Ithuliens Augebrauen zogen sich leicht zusammen, bevor er die Erinnerungen weiter geschehen ließ.

Plötzlich wird alles schwarz. Tiefschwarze Nacht, Leere und Stille. Als Levana erwacht, kann sie sich an nichts erinnern. Sie hat kein Gold mehr und nur das, was sie noch bei sich trägt. Verwirrt läuft sie los.

Die Verbindung zwischen Ithulien und Levana brach ab und auch die Elemente lösten sich nach und nach auf. Plötzlich übermannte beide eine ungeahnte Erschöpfung. Levana, bereits vom Schlafmangel entkräftigt, sank in sich zusammen. Ithulien, merklich ausgezehrt, stützte sich mit beiden Händen an dem Steintisch ab und begann tief auszuatmen.

Während Marcela und Kylia der verwirrten Levana zu Hilfe eilten, kümmerte sich Nilya um den elfischen Magier. „Le hannon gwathel“, murmelte Ithulien, ihre Hand nehmend. „Auch du brauchst Ruhe Hanno. Das hat dich sichtlich mitgenommen“, sagte die Elfe zu Ithulien, der sich entkräftigt wiederaufrichtete. „Naw, wahre Worte“, antwortete der Grauelf. „Doch ich konnte Zugang zu ihrem Geiste erlangen.“

Auch Levana rappelte sich wieder etwas auf und lehnte sich gegen den Tisch. „Langsam, Levana“, sagte Kylia, die sie sanft stützte. „Kelindahr …?“ fragte Levana, verstört um sich blickend.

„Naw, ich sah diesen Kelindahr am Strand, Levana Rotfuchs“, sagte Ithulien. „Das, was du vergessen hast, hat dir damals großen Schmerz bereitet. Eine Erinnerung, welche dich zu sonderbaren Wegen leitete.“

Levana versuchte erfolglos, die Situation zu erfassen. Mit glasigen Augen blickte sie den Magier an, fast so, als ob sie ihn zum ersten Mal sah. Dann klarte ihr Blick etwas auf. Mit beiden Händen hielt sie ihre Arme, die Fingernägel in die Haut krallend. Eine Träne rollte langsam ihre Wange hinab.

„Du solltest Ruhe finden und dich mit deinen Schwestern umgeben“, fuhr Ithulien fort. „Sie werden dir die notwendige Stabilität geben, welche du in den nächsten Wochen benötigst. Ein Fluch … ein Zauber des Vergessens lastete auf deinem Geist. Er saß tief und hinterließ sichtbare Spuren. Deine Erinnerungen kommen wieder, doch es wird Zeit benötigen. Esst Knoblauch und trinkt Tee aus frischem Ingwer gegen die Kopfschmerzen.“

Levana spürte den Schmerz wieder. Gleichzeitig fühlte sie, dass sie wieder vollständig war. Manches lag noch verborgen, doch es war alles da – alles, was so lange von Mauern geschützt worden war. Das hatte sie Ithulien zu verdanken. Er hatte die Mauern durchbrochen.

Noch fühlte sie einen Nachklang der Verbundenheit. Er kannte nun einige ihrer intimsten Erinnerungen – eine Gemeinsamkeit, die sich nicht wieder auslöschen ließ.

Sie blickte dem Elfen direkt in die Augen. „Ich danke euch“, flüsterte sie …

„So ihr bereit seid, sprechen wir erneut. Dein Weg wird dich in den kommenden Monden wieder hierherführen. Dem ist gewiss.“